Sicherheit im Wandel geben
Dinnerspeech von Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IGBCE, zum Kommersabend am 20. Mai 2022
Die Transformation der Industrie ist die große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Bis zum Jahr 2045 soll Deutschland klimaneutral werden. Für die Industrie bedeutet das, dass Produkte und Prozesse in den kommenden 23 Jahren an das Null-Emissionen-Ziel angepasst werden müssen. Auch die Chemieindustrie muss nachhaltiger werden, ohne dabei Beschäftigte auf der Strecke zu lassen.
Offen bleibt aber noch immer die grundsätzliche Frage der Finanzierung der industriellen Transformation. Für den Ausbau erneuerbarer Energien, für die Beschleunigung von energetischer Sanierung oder für Kaufzuschüsse für elektrische Antriebe sind viele Millionen Euro notwendig.
Auch wenn der Markt effizient und kostengünstig reguliert wird, wird Klimaschutz teuer. Die Akzeptanz dieses Billionenprogramms wird wesentlich von der gesellschaftlichen Verteilung dieser Kosten abhängen. Die Beschäftigten sollten nicht die Last tragen müssen. Staatliche Leistungen, die heute nicht aus Steuermitteln geleistet werden können, sollten über eine höhere Nettokreditaufnahme gezahlt werden. Volkswirtschaften, die das heute vorbereiten, werden spätestens zur Jahrhundertmitte davon profitieren. Und Staaten können und sollten in diesen Zusammenhängen langfristiger kalkulieren als Unternehmen, die in einer anderen Art von Wettbewerb stehen.
Klimapolitik muss auch Industriepolitik sein
Es gibt jedoch aktuelle Herausforderungen, die das Erreichen der Klimaziele und die Akzeptanz in der Bevölkerung gefährden. Die hohe Inflation birgt ein beträchtliches Konfliktpotenzial. Und der russische Überfall auf die Ukraine hat zu einer weiteren, drastischen Verschärfung der Energiepreisentwicklung geführt. Diese Zusammenhänge zeigen, dass Klimapolitik auch Industriepolitik sein muss.
Denn beide bedingen sich in der aktuellen Lage maßgeblich. Wir brauchen also genauso klare Ziele für Beschäftigung und für industrielle Wertschöpfung wie für CO2-Emissionen. Der Staat muss aktiv industriepolitisch tätig werden, um neue Beschäftigung an deutschen und europäischen Industriestandorten zu ermöglichen. Nur so kann der Industriestandort Deutschland mit seinen guten, tarifgebundenen Arbeitsplätzen gesichert werden.
Worum es dabei geht, zeigt das Beispiel Wasserstoff: In einer treibhausgasneutralen Welt wird Wasserstoff aus erneuerbaren Energien Mineralöl und Erdgas als Energieträger ablösen. Denn unter den Bedingungen von Treibhausgasneutralität wird auch die chemische Industrie kein Naphtha mehr aus Mineralöl cracken können. Stattdessen wird sie für alle neuen Kunststoffe Molekülketten aus Wasserstoff und Kohlenstoff synthetisch herstellen müssen – mit hohem Energie-Aufwand aus erneuerbaren Quellen. Die beabsichtigte Kooperation von RWE und BASF zeigt, was dafür nötig wird: nämlich erst einmal viel Strom aus erneuerbarer Energie. Platz für die großen Windparks ist aber weder in Ludwigshafen noch in Mannheim. Im notwendigen Umfang findet man ausreichend Platz nur an den Küsten. Deswegen wollen RWE und BASF einen Windpark in die Nordsee bauen.
Transformation braucht Sicherheit im Wandel
Jetzt – in der Gegenwart – müssen wir die Weichen für die Zukunft stellen. Wir müssen den politischen Zielkonflikt zwischen der Sicherung des notwendigen Wasserstoff-Aufkommens und der Sicherung industrieller Standorte in die richtigen Bahnen lenken. Und wir müssen Sicherheit im Wandel bieten. Und zwar sowohl technische Sicherheit als auch soziale Sicherheit.
Eine wirklich sozial gerechte Transformation sichert nicht nur die Risiken ab, sondern vertraut auch auf Chancen. Chancen für Facharbeiterinnen und Facharbeiter, in nachhaltigen neuen Prozessen in neuen deutschen Industrieanlagen gute Arbeit zu leisten und Karriere zu machen. Diese Chancen müssen wir ihnen ermöglichen. Wir müssen Beschäftigte an der Gestaltung des Wandels beteiligen, mit ihnen sprechen, ihre Potenziale zur Geltung bringen und ihre Interessen nach sozialer Sicherheit und tarifgebundener Arbeit berücksichtigen. Für die politische, aber auch für die ökonomische Stabilität ist es besser, die Transformation aktiv zu gestalten und den Beschäftigten in den Veränderungsprozessen Perspektiven zu bieten.
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