Keine Versicherung kann Pandemierisiken dieses Ausmaßes abdecken
Rund vier Monate nach der ersten Befragung im März/April, deren Ergebnisse in der Ausgabe 4/20 des VVBmagazin vorgestellt wurden, haben die V.E.R.S. Leipzig GmbH und die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Rahmen der Studie 2.0 zu den Auswirkungen von Corona auf die Versicherungsindustrie erneut 30 Versicherer um Auskunft gebeten: Wie haben sich Corona-Krise und Shutdown ausgewirkt? Haben sich Prognosen bestätigt? Die Ergebnisse sind im Großen und Ganzen ähnlich positiv ausgefallen wie im Frühjahr, scheren an einigen Punkten aber doch aus. Prof. Dr. Fred Wagner vom Institut für Versicherungswissenschaften e.V. an der Universität Leipzig und Thomas Korte, Leiter des Sektors Versicherungen bei EY, beleuchten im Interview, woran die Versicherungsbranche jetzt arbeiten sollte.
Prof. Dr. Fred Wagner
Nach dem Abitur und einer Banklehre studierte Wagner Betriebswirtschaftslehre in Köln, wo er im Anschluss als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. 1991 folgte seine Promotion, 1997 die Habilitation – Thema seiner Habilitatsionsschrift war das Risk Management im Erstversicherungsunternehmen. Seit 1996 ist Wagner Inhaber des Lehrstuhls für Versicherungsbetriebslehre und Vorsitzender des Vorstands im Institut für Versicherungswissenschaften an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem der Versicherungsmarkt, Risk Management, Versicherungsvertrieb und –controlling sowie die Digitalisierung der Assekuranz.
Thomas Korte
leitet als Senior Partner den Versicherungsbereich in Deutschland und ist Service-Line-übergreifend verantwortlich für die Positionierung und Marktansprache von Versicherungen. Sein Team umfasst ca. 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – im Wesentlichen an den Standorten München, Köln, Stuttgart, Frankfurt/Eschborn und Hannover. Thomas Korte repräsentiert EY Deutschland im globalen und europäischen Insurance Management Board und ist somit in alle Management-Entscheidungen des Sektors Insurance eingebunden. Für einige Versicherungskunden ist er bereits seit Jahren der direkt verantwortliche Account-Partner. Darüber hinaus leitet Thomas Korte den Transaktions- und Strategieberatungsbereich für Versicherungsunternehmen (“Strategy and Transactions“) in Deutschland und übergreifend für Europa. Rund 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten in diesem Geschäftsbereich. Im Rahmen dieser Tätigkeit verfügt er über die Erfahrung von mehr als 100 Transaktionen sowohl im Versicherungsbereich als auch für Private-Equity-Kunden, die im Versicherungssektor tätig sind. Thomas Korte verfügt über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung im Versicherungsbereich und startete seine Karriere beim Gerling-Konzern in Köln.
Eine gemeinsame Studie von EY und der V.E.R.S. Leipzig GmbH bildete im Frühjahr die Situation und Prognose in der Versicherungsbranche unter den Vorzeichen von COVID-19 ab. Das Resultat damals: Versicherer erweisen sich als krisenfeste Partner. Rund vier Monate später wurden dreißig Versicherer erneut befragt. Die neuen Ergebnisse offenbaren ein differenzierteres Bild, bei dem sich zum Beispiel die Umstellung auf das Homeoffice als äußerst erfolgreich gezeigt hat, aber in dem sich auch Imageschäden abzeichnen. Prof. Dr. Fred Wagner von der Universität Leipzig und Thomas Korte, Leiter des Versicherungssektors bei EY, beleuchten die Veränderungen in der Versicherungsbranche im Gespräch.
Es wird immer deutlicher, dass es ein Arbeiten wie vor der Corona-Krise nicht mehr geben wird.
Thomas Korte
In den drei Bereichen Neugeschäft/Vertrieb, Kapitalmanagement und Schaden-/ Leistungsfallbearbeitung werden die Herausforderungen ein Vierteljahr nach dem Shutdown nicht mehr so hoch bewertet wie im Frühjahr. Wie kommt es dazu?
Prof. Dr. Fred Wagner: In den drei Bereichen Neugeschäft/Vertrieb, Kapitalmanagement und Schaden-/ Leistungsfallbearbeitung werden die Herausforderungen ein Vierteljahr nach dem Shutdown nicht mehr so hoch bewertet wie im Frühjahr. Wie kommt es dazu?
Dennoch könnte das positive Bild der Kapitalanlagen trügerisch sein, oder?
Thomas Korte: Im Bereich der Immobilien und Beteiligungen war die Entwicklung insgesamt positiver als erwartet. Für die Zukunft erhoffen sich viele Versicherer auch durch die hohe Liquidität auf den Kapitalmärkten eine starke Entwicklung der Aktienmärkte.
Wagner: Allerdings weiß niemand, ob sich die Werte der Kapitalanlagen in ruhigerem Fahrwasser weiter nach oben entwickeln. Ich befürchte, dass wir im Laufe des nächsten oder übernächsten Jahres Folgen in der Gesamtwirtschaft sehen werden – wenn die Kurzarbeiterflankierung reduziert wird, wenn einige Branchen substanzielle Probleme infolge von COVID-19 erleben mussten und wenn dann möglicherweise auch die Arbeitslosigkeit steigt.
Die Effekte der Krise auf die Bereiche Informationstechnik, Betriebsorganisation und Personalmanagement werden inzwischen höher bewertet. Was ist hier zu beobachten?
Wagner: Der Übergang ins Homeoffice ist im Versicherungssektor erstaunlich reibungslos gelaufen. Die Frage ist aber, wie viel Homeoffice in Zukunft generell etabliert werden soll. Hier ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen effizienter Arbeit zu Hause und der Notwendigkeit des persönlichen Austausches zu finden; die Kommunikation zwischen den Zeilen funktioniert im Homeoffice eben nur bedingt. Das alles ist aber noch nicht Digitalisierung. Die Informationstechnik und die Bedingungen für die Mitarbeiter im Homeoffice werden sich noch erheblich weiter entwickeln müssen.
Korte: Ja, es wird immer deutlicher, dass es ein Arbeiten wie vor der Corona-Krise nicht mehr geben wird. Die Frage ist nun, wie Versicherer für sich und ihre Mitarbeiter das „New Normal“ definieren.
Stichwort Digitalisierung: Neue Möglichkeiten durch Corona sehen jetzt mehr als doppelt so viele der Befragten. Steht hier eine vermeintlich behäbige Branche vor einer Disruption?
Korte: Die oftmals als konservativ verschriene Versicherungsbranche hat die Krise genutzt, um Arbeitsabläufe neu zu strukturieren und zu digitalisieren. Diesen Weg muss sie nun konsequent weiterverfolgen und sowohl ihre internen Prozesse als auch die Schnittstellen zum Kunden – ob Endkunde, Vertriebspartner oder Vertriebsplattform – weiter digitalisieren und optimieren. Es ist weniger eine Disruption als eine echte Chance.
Haben Sie in Gesprächen mit Versicherern auch in anderer Hinsicht eine veränderte Wahrnehmung durch die Corona-Krise erlebt?
Wagner: Es war schon eine Herausforderung, in der Corona-Krise das Geschäft und die Prozesse stabil zu halten. Der Motivationsschub war bei den Mitarbeitern sofort vorhanden. Über den Innovationsschub wird geredet, aber es ist noch zu früh, um zu sagen, dass es ihn schon gibt. Ich sehe ihn so noch nicht – Homeoffice allein ist noch längst keine Digitalisierung.
„Der Motivationsschub war bei den Mitarbeitern sofort vorhanden. Über den Innovationsschub wird geredet, aber es ist noch zu früh, um zu sagen, dass es ihn schon gibt.“
Prof. Dr. Fred Wagner
66% der befragten Versicherer sagen, die Corona-Krise wirke sich „leicht negativ“ auf ihr Image aus.
Stark zunehmen – davon geht die Mehrheit aus – werden Schadenfälle hinsichtlich Betriebsschließungen und Veranstaltungsausfällen. Kann das einzelne Versicherer in eine bedrohliche Schieflage bringen?
Korte: Speziell für kleinere Versicherer, die sich stark auf diese Versicherungssparten und womöglich sogar noch stark betroffene Branchen wie das Hotel- und Gastronomiegewerbe spezialisiert haben, werden sich erhebliche Herausforderungen ergeben. Nicht nur aus den Schadenfällen, sondern noch viel mehr aus zahlreichen gerichtlichen Prozessen und auch aus der sachgerechten Darstellung und Rückstellungshöhe im Jahresabschluss 2020. Gleichsam ist festzuhalten, dass die Pandemie-Risiken vielfach vom Versicherungsschutz exkludiert sind und somit die allermeisten Versicherer in Deutschland durch die Corona-Krise nicht in eine bedrohliche Schieflage geraten werden.
Allerdings gibt es andere Auswirkungen: Enorme 66 Prozent geben an, dass Corona sich eher negativ auf das Image von Versicherern auswirkt – hauptsächlich aufgrund der Diskussion um Betriebsschließungen. Können die Versicherer gegensteuern?
Wagner: Um den Begriff noch einmal aufzugreifen: Ich sehe die bedrohliche Schieflage tatsächlich eher beim Image der Versicherungswirtschaft. Den Kunden, dem Verbraucherschutz und letztlich auch Gerichten ist schwer zu vermitteln: Wenn die Bedingungen unklar sind, dann zahlen wir nicht oder nur einen Kompromiss von 15 Prozent. Immerhin sind die Versicherungsbedingungen von versierten Juristen geschrieben und die Kunden können im Fall unklar formulierter Versicherungsbedingungen kaum unterscheiden, ob eine Pandemie eingeschlossen ist oder nicht. Sich in dieser Situation auf Rechtsstreitigkeiten einzulassen, wird der Branche Reputationsschäden hinterlassen – egal wie die Gerichtsurteile ausfallen. Andererseits: Wer Pandemie in seinen Bedingungen ausgeschlossen hat, der hat natürlich nicht zu zahlen. Da sollte dann auch für den Versicherer Rechtssicherheit gelten.
Korte: Der aktuell bestehende Konflikt zwischen Versicherern und einzelnen Versicherungsnehmern ist für das Image der Gesamtbranche auf keinen Fall förderlich. Zahlreiche Gerichtsverfahren, in denen es teilweise um sehr viel Geld und um die Existenzen von Unternehmen besonders aus dem Gastronomiegewerbe geht, werden auch in den nächsten Monaten die Branche öffentlichkeitswirksam tangieren. Das Beharren der Versicherungsunternehmen auf den geschlossenen Vertrag und das dazugehörige Bedingungswerk wird in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zu einem positiven Image verhelfen. Insofern sehe ich hier ebenfalls ein großes Risiko für die Versicherungsbranche.
Das Beharren der Versicherungsunternehmen auf den geschlossenen Vertrag und das dazugehörige Bedingungswerk wird in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zu einem positiven Image verhelfen.
Thomas Korte
Die Versicherungswirtschaft erweist sich nach wie vor als krisenfester Partner. Einzige Ausnahme sind auch hier die Entwicklungen rund um die Betriebsschließungsversicherungen. Hier hätte man weitere Chancen wahrnehmen können.
Prof. Dr. Fred Wagner
Soll darum auch die Deckung von Pandemierisiken – entgegen dem Ausblick im Frühjahr – künftig eher eingeschränkt werden?
Wagner: Pandemierisiken werden nicht in voller Weise oder – wie im aktuellen Ausmaß – von einzelnen privaten Versicherungsunternehmen gedeckt werden können. Solche Risiken können im Kollektiv nicht ausgeglichen werden und dafür reicht auch die Kapitalkraft der Versicherer nicht aus. Hier werden wir verstärkt und sehr grundlegend zu Public Private Partnerships kommen müssen, was in Deutschland ja schon überlegt wird und eigentlich auch über Ländergrenzen hinausgedacht werden muss.
Korte: Die geplante Deckungseinschränkung bezieht sich vor allem auf bestimmte Versicherungszweige. Die Betriebsschließungsversicherung beispielsweise hat in der Corona-Krise durchaus das Image der Versicherer belastet. Die Regulierungspraxis des Produktes stand hier der Möglichkeit gegenüber, sich als verlässlicher Partner an der Seite der Versicherungskunden zu positionieren. Auch daher denken manche Versicherer sicherlich über eine Einschränkung der Deckung nach, die dann jedoch besser kommuniziert werden muss. Andererseits planen manche Versicherer auch eine Erhöhung der Deckung, beispielsweise für Reiseversicherungen.
Mit welchen speziellen Angeboten sind Versicherer ihren Kunden in der Corona-Krise umgekehrt entgegengekommen?
Korte: Versicherer konnten beispielsweise mit einer Stundung der Beiträge oder einem Aussetzen der Mahnungen Fingerspitzengefühl zeigen. Auch die Informationsbereitstellung zu coronaspezifischen Fragen war für Versicherungsnehmer meiner Meinung nach hilfreich. In der Beratung wurden verstärkt Lösungen wie digitale Unterschriften, Endkundenportale und voll-digitale Abschlussmöglichkeiten bereitgestellt.
Bilanz: Bleibt das Bild des krisenfesten Partners für Sie nach wie vor bestehen?
Wagner: Die Corona-Krise war eine Art „moment of truth“, ob die Versicherer ihre Kunden in einer völlig veränderten Situation und Umgebung weiterhin beraten und betreuen können. Es gab – soweit ich das erkennen kann – keine durch Corona bedingten Zeitverzögerungen, im Gegenteil: Es wird sogar von einer gesteigerten Effizienz gesprochen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass sich die Versicherungswirtschaft nach wie vor als krisenfester Partner erweist. Einzige Ausnahme sind auch hier die Entwicklungen rund um die Betriebsschließungsversicherungen. Hier hätten Chancen wahrgenommen werden können, jetzt wird es schwierig, das nochmal zu drehen.
Hinterlasse einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar schreiben zu können.